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Philosophie -> Naturalismus und Naturähnlichkeit (Kapitel 4)
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4.2 Optische und visionäre Naturähnlichkeit

Die formale Übereinstimmung des realen Gegenstandes mit seiner bildlichen Darstellung wird hier Naturähnlichkeit genannt. Sie ist zum beliebtesten Zankapfel bei der Beurteilung von Kunstwerken geworden und hat die Kunstinteressierten in zwei Lager gespalten. Für die Anhänger des Naturalismus ist der Zweck jeden Kunstschaffens erfüllt, wenn die Darstellung der Wirklichkeit entspricht, während ihre Widersacher jede Naturähnlichkeit verdächtigen, eine Folge mangelnder Gestaltungskraft zu sein oder aber der Unfähigkeit, sich von überholten Konventionen zu lösen.

Doch sollte schon ein flüchtiger Blick auf verschiedenartige bildnerische Erzeugnisse zeigen wie ungeeignet die Naturähnlichkeit an sich als Kriterium für Kunsturteile ist. Gibt es doch große Kunstwerke, wie Porträts von Velázquez, Tintoretto, van Dyck, Tizian, Holbein oder Dürer, die sehr naturähnlich sind, und andere Kunstwerke, die es gar nicht sind, wie chinesische Tuschzeichnungen oder die phantastischen Bilder Boschs und die Seebilder Turners. Dagegen gibt es künstlerisch wertlose Produkte, die sehr naturähnlich sind, wie Passfotos oder gezeichnete Illustrationen botanischer oder medizinischer Werke. Umgekehrt gibt es nicht naturähnliche Erzeugnisse, die – vom hier definierten Standpunkt her gesehen – keine visionäre Kunst sind, wie die Arbeiten von Delaunay, Kandinsky, des späteren Picasso oder die Skulpturen Brancusis, Arps und Giacomettis.

Die Ähnlichkeit der dargestellten mit den realen Dingen gibt also keinesfalls ein Kriterium für den künstlerischen Wert eines Werkes ab, denn sie kann auf zwei vollständig verschiedenen Wegen zustande kommen. Im visionären Werk ist sie die Manifestation einer innigen Durchdringung des Gegenstandes durch Intuition und Phantasie, im naturalistischen Produkt ist sie das deskriptive Resultat messbarer Fakten in geschickter und optisch korrekter Wiedergabe. Im visionären Werk ist Naturähnlichkeit eine sekundäre Erscheinung, die vorhanden sein kann, aber durchaus nicht vorhanden sein muss, als eine Art Nebenprodukt künstlerischen Schaffens, das sich je nach der Eigenart der Vision mehr oder weniger deutlich von selber ergibt. Für den Naturalisten hingegen ist sie das einzige oder zumindest das wichtigste Ziel.

Die hier vorgenommene Unterscheidung von "visionärer" und "optischer" Naturähnlichkeit ist für die Wertung des künstlerischen Gehaltes ausschlaggebend. Doch ist sie nicht immer leicht zu treffen, denn viele Kunstwerke haben gleichermaßen einen visionären und einen nachahmenden Ursprung. Ganz frei von naturalistischen Einschlägen sind nur Werke der allergrößten Meister. Ihre aus mystischer Einsicht und künstlerischer Phantasie geborenen Visionen waren so deutlich, ihre Fähigkeit sie unmittelbar darzustellen so ausgebildet, dass sie auf die Krücken der Nachahmung verzichten konnten.

In Holland waren während des für die Malerei so überaus fruchtbaren 17. Jh. eine große Anzahl Künstler tätig, die alle sehr naturgetreu malten. Während die meisten Werke der Malerfürsten Rembrandt, Hals, Seghers, van Goyen Zeugen rein visionären Schaffens sind und sich in den Bildern Terborchs, Vermeers, Ostades und Brouwers nur gelegentlich naturalistische Elemente einschleichen, sind die Erzeugnisse technisch perfekter, aber weniger phantasiebegabter Künstler wie Frans van Mieris d. Ä., Dou, Kalf, Steen, Fyt, Claesz, Heda u.a. nachahmender Darstellung weit mehr verpflichtet. Es vergingen Jahrhunderte bis das Urteil der Kunstgeschichte die genialen Künstler aussiebte und dieser Prozess ist bis heute nicht abgeschlossen: Hercules Seghers und Jan van Goyen werden unterschätzt, dafür Steen, Snyders und Fyt eine viel zu große Bedeutung beigemessen.

Am wenigsten sind es wohl die Künstler selbst, die den Unterschied zwischen optischer und visionärer Wahrnehmung machen. Dem Phantasiebegabten ist die Verwandlung des realen Gegenstandes zum transzendenten Wunder so selbstverständlich, dass er sie auch vollzieht, wenn er nur reale Dinge wiederzugeben glaubt. Der Phantasielose dagegen, der diese Metamorphose nicht kennt, bleibt vom konkreten Gegenstand gefangen und hält seinen Realismus für eine künstlerische Leistung. Wie alle Künstler der Renaissance war Leonardo da Vinci überzeugt, Ziel der Malerei sei die treue Wiedergabe der Naturerscheinung (s. Leonardo da Vinci "Lehrbuch der Malerei" und Vasari "Das Leben der Renaissancemaler"). Dass diese Wiedergabe auch reine Nachahmung sein kann, ahnte dieses Genie, dem jeder Gegenstand ein formales Wunder war, selber wohl kaum: kein Strich seiner Naturstudien ist vom nüchternen Auge des Naturalisten geprägt worden.

Vasari berichtet wie die Renaissancekünstler bestrebt waren, sich der Naturerscheinung durch das Studium der Anatomie und der Perspektive zu nähern. Er erwähnt jedoch nicht, dass dieser Forschungsdrang die Malerei nur dann förderte, wenn er von visionärer Ergriffenheit begleitet wurde, und dass sich gerade die größten Künstler wie Ghirlandaio, della Francesca und Tizian, der Anatomie und Perspektive nur als untergeordnete Hilfsmittel bedienten (vgl. den Chor in Santa Maria Novella in Florenz und die Fresken im Dom von San Giminiano von Domenico Ghirlandaio oder den Chor in San Francesco in Arezzo von Piero della Francesca).

Da der Naturalismus den Stil naturähnlich gestaltender Kunstepochen, die ihm vorausgingen, beibehält, besteht äußerlich kein Unterschied zwischen naturalistischen und naturähnlich-visionären Werken. Nur ein musisches Sensorium unterscheidet sie, weil das visionäre Werk ein künstlerisches innerliches Erlebnis mitteilt, das naturalistische dagegen eine bloß eine imitierte, künstlerisch nicht erlebte, innerlich unbeteiligte Form zeigt. Fehlt dem Betrachter dieses Sensorium, so beurteilt er nur die formale Gestaltung der Werke und sieht beim besten Willen keinen Unterschied zwischen den Produkten visueller Phantasie und jenen kopierender Nachahmung. Es ist ihm deshalb nicht zu verargen, wenn er ein Porträt Anton Graffs ebenso hoch einschätzt wie eines von Goya oder den sauber ausgeführten Stich eines englischen Pferdekenners den ausdrucksvollen Umrissen eines paläolithischen Tierzeichners vorzieht.

Da der künstlerische Ausdruck diskursiv nicht erfasst und infolgedessen auch nicht nachgewiesen oder erklärt werden kann, stößt die Begeisterung, die er auslöst, bei amusischen Menschen nur auf ungläubige Blicke und verständnisloses Kopfschütteln. Auf dieselbe Skepsis des Physikers, der im Feuer nur ein Verbrennungsphänomen sieht, stößt auch der Parse, dem sich die Flamme als das Sichtbarwerden einer Gottheit offenbart. Und wie der Physiker die Ergriffenheit des Parsen etwa als Wirkung von Einbildung oder gar Autosuggestion zu erklären sucht, neigt auch der amusische Mensch dazu, die ihm unverständliche Ergriffenheit des Kunstbetrachters als Überspanntheit abzutun.

Der gebildete oder verbildete Kunstbanause hingegen verbindet sein Unverständnis für künstlerische Dinge mit dem Begriff Kunst schlechthin. Nach dem Motto "Wenn ein Maler oder Bildhauer etwas Unverständliches herstellt, dann muss es Kunst sein." Er glaubt Kunst zu erleben, wenn ihm das betrachtete Werk unverständlich bleibt, sei es aus eigener Blindheit für die Produkte der Phantasie und für die transzendenten Aspekte des Lebens oder sei es, weil das betrachtete Werk selbst überhaupt nichts ausdrückt.

Es ist wie in der Erzählung "Des Kaisers neue Kleider": man gibt seine Ignoranz lieber nicht zu und beugt sich dem vorherrschenden Trend – selbst wenn man sich unter wahren Kennern lächerlich macht – als dass man zugibt, nichts zu erkennen, weil es nämlich gar nichts zu sehen gibt. Dieser Trugschluss und die Furcht, in Dingen der Kunst für unaufgeschlossen zu gelten, erklären wie modeabhängige Publizistik sowohl Pseudokünstler (z.B. Präraffaeliten, Dadaisten und Futuristen) als auch Pseudokunst (z.B. Jugendstil, Kubismus, Expressionismus, Abstrakte Kunst und Pop Art) während Jahrzehnten hochspielen kann. So wie jener Missionar, der einen Wettstreit mit dem Medizinmann eines afrikanischen Stammes bestand indem er sein Gebiss vor der staunenden Menge herausnahm, damit in der Luft herum klapperte und daraufhin als großer Zauberer verehrt wurde, so gehen moderne Scharlatane auch als hochgelobte Zauberer in die Geschichte ein, bloß weil sie unverständlichen Schabernack treiben, die Menschen zu bluffen und ihre Ahnungslosigkeit auszunutzend.

Die Verwechslung von visionärer mit naturalistischer Gegenständlichkeit hat zu den sinnlosesten Ansichten und Urteilen geführt. So wurde behauptet, die gegenstandsgebundene Kunst hätte ihre Berechtigung mit der Erfindung der Farbphotographie verloren. Das Werk eines Velázquez wird also einer richtig belichteten Momentaufnahme gleichgestellt! Ein Unsinn, dem zu entgegnen sich erübrigt. Wahr ist hingegen, dass es der Naturalismus ist, der durch das Wachsfigurenkabinett und die Farbphotographie entlarvt und überflüssig gemacht geführt wurde.

Die Photographie konnte als neue Kunstgattung gewertet und der Ausdruck "Kunstphotographie" eingeführt werden, weil übersehen wurde, dass technische Tricks, mit denen der Photograph seine Effekte erreicht (Papierkorn, Raster, Verwischen einzelner Teile, Doppelbelichtung u.ä.), der mechanischen Aufnahme auch nur mechanische Veränderungen hinzufügen, Die einzigen nichtmechanischen Entscheidungen des Photographen, nämlich die Wahl des Motivs, des Bildausschnitts u. ä. werden geschmacklich getroffen und haben somit eine dekorative Funktion, jedoch keine im Sinne der hier definierten visionären Kunst. Berechtigter ist dagegen der Anspruch, den der Film erhebt, zu den Künsten gezählt zu werden. Die Bildfolge wird zwar auch hier mechanisch erzeugt, doch die Art wie die Szenen und Ereignisse ablaufen, wie sie zusammengesetzt und gespielt werden, kann eine künstlerische Vorstellung des Regisseurs vermitteln, womit der Film zu den darstellenden Künsten gerechnet werden kann (vgl. Filme von Fellini, Visconti oder Kurosawa).

Die Nichtbeachtung des Unterschiedes zwischen optisch und visionär bedingter Naturähnlichkeit führte zu Fehlurteilen, die erwähnenswert sind, da sie den Gegnern gegenstandsgebundener Kunst als Argumente dienten, ihre Ansichten scheinbar zu untermauern. Sie behaupteten nämlich, die gegenständliche Darstellung sei eine zeitlich bedingte Sondererscheinung abendländischer Kunst, sie sei erst in der Spätantike entstanden, von der Renaissance wieder aufgegriffen und dann fortgesetzt worden bis die abstrakte Kunst diesem zur Konvention gewordenen Stil ein Ende bereitet habe. Andere Kulturkreise hätten der Gegenständlichkeit der Darstellung keine Bedeutung beigemessen, was unter anderem die Werke des Islams, der Azteken und Mayas sowie Perserteppiche, schwarzafrikanische Plastiken und Kinderzeichnungen bezeugen würden.

Hier wird alles durcheinander geworfen, um einer falschen These durch Verwirrung der Begriffe einen Schein von Wahrscheinlichkeit zu geben: Der grundlegende Unterschied zwischen einer naturähnlich-visionären und einer naturalistischen Gestaltung wird ignoriert, der nicht minder fundamentale Unterschied zwischen visionärer Kunst und Ornamentik wird übersehen und eine gegenständliche jedoch nicht naturähnliche Darstellung mit abstrakter Formgebung in den gleichen Topf geworfen.

In Wirklichkeit war die bildende Kunst aller Zeiten und Völker gegenständlich und die Künstler haben ihre Vorstellungen ausschließlich in gegenstandsgebundenen Formen ausgedrückt. Nur taten sie es auf sehr verschiedene Art, denn nicht alle Bilder ihrer Phantasie entsprachen der realen Erscheinung in gleichem Maße, abgesehen von zeitlich und geographisch bedingten Unterschieden bei der Verfügbarkeit von Materialien und bei den handwerklichen Fähigkeiten.

Weil der Koran die bildnerische Darstellung des Menschen verbot und die anderer Lebewesen nur duldete, wenn sie stilisiert wurde, gibt es zwar keine visionäre arabische Malerei und Plastik, dafür aber eine hochentwickelte Ornamentik. Unter orthodoxen, sunnitischen Mohammedanern entstanden im Schatten dieses Verbotes nur zaghafte Ansätze visionärer Bildnerei während sie sich unter den schiitischen Persern und den Indern der Mogulkaiser zu höchster Blüte entfaltete. Die Teppichwirkerei des Orients und die Ausschmückung der Architektur mit Arabesken, abstrakten Formen und Schriftzeichen gehören nicht zur visionären sondern zur dekorativen Kunst. Arabische und türkische Moscheen und Paläste sind als Bauwerke der "Gattung Architektur" Zeugen visionären Schaffens, nicht ihre Teppiche und Ornamente.

Kinderzeichnungen sind trotz ihrer geringen Naturähnlichkeit keine abstrakten Produkte, sondern solche, deren Gegenstände auf unbeholfene Art dargestellt wurden. Afrikanische Plastiken und die Erzeugnisse der Mayas und Azteken sind als Beispiele gegenstandsloser Kunst ebenso ungeeignet. Die geringe Naturähnlichkeit solcher Werke ist teils auf dekorative Zwecke, teils auf das Vorherrschen visionsfremder Vorstellungen zurückzuführen. Diese werden später besprochen.

Im letzten Viertel des 19. Jh. befiel die jüngere Malergeneration eine wachsende Unruhe. Der Überdruss am Neoklassizismus, an den Lehren erstorbener Kunstakademien, an der literarisch beeinflussten Romantik und am Naturalismus, den die Photographie in den Schatten zu stellen strebte, ließ jene Künstler nach neuen Formen der Gestaltung suchen. Obgleich große Maler wie Goya, Delacroix und Corot ihr Lebenswerk kaum vollendet hatten, verbreitete sich die Ansicht, man könne nicht mehr malen wie in früheren Zeiten, denn die bildenden Künstler von damals hätten durch ihre Höchstleistungen eine sinnvolle Fortsetzung bildnerischer Tätigkeit vorweggenommen. Als ob man ein künstlerisches Erlebnis wiederholen, fortsetzen oder vorwegnehmen könnte! Ebenso gut hätte man behaupten können, es lohne sich nicht mehr zu lieben, weil Romeo und Julia das Höchste in dieser Hinsicht bereits geleistet hätten.

Die Opposition gegen den Naturalismus veranlasste die Künstler nach Ausdrucksformen zu streben, die dem realen Gegenstand weniger verpflichtet seien. Da viele von ihnen jedoch nicht unterschieden zwischen optisch beschreibender Naturähnlichkeit und visionärer, in innerer Schau erlebter, entfernten sie sich zugleich von beiden. Das Kind wurde mit dem Bade ausgeschüttet.

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