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Philosophie -> Naturalismus und Naturähnlichkeit (Kapitel 4)
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4.1 Kritik des Naturalismus

Ein Kunstwerk ist der unmittelbare Ausdruck eines einmaligen, unwiederholbaren künstlerischen Erlebnisses. Vom rein handwerklichen Beitrag abgesehen, erscheint jeder künstlerische Ausdruck infolgedessen in einer nur ihm eigenen Gestalt und es widerspricht seiner Einmaligkeit, ihn einem bestimmten Stil, einer bestimmten Kunstform oder Kunstrichtung zuzuordnen.

Sammelbegriffe wie Klassizismus, Realismus, Impressionismus, Naturalismus beziehen sich somit weniger auf den künstlerischen Ausdruck der Werke als auf die Merkmale ihrer Darstellung und ihrer Technik. So wird unter Naturalismus eine dem Naturobjekt ähnliche Darstellung verstanden. Da damit kein wesentlicher Zug des künstlerischen Ausdrucks charakterisiert wird, soll der Begriff "Naturalismus" hier in einer enger umgrenzten Bedeutung verwendet werden, nämlich als das Bestreben die reale Erscheinung mittels angemessener Mittel nachzuahmen. Vorausgeschickt sei, dass hier nicht die Naturähnlichkeitan sich in Frage gestellt wird, die auch das Ergebnis visionär-meditativen Wahrnehmens sein kann (s. folgendes Kapitel), sondern die akribische und phantasielose Wiedergabe des realen Gegenstandes. Im Naturalismus, wie er hier verstanden wird, hat sich die Verwandlung des realen Gegenstandes in ein Formen- und Farbwunder nicht vollzogen. Der Gegenstand ist Gegenstand geblieben, der Apfel eine essbare Frucht, der Porträtierte eine bestimmte Person, die Landschaft eine örtlich situierbare Bodenformation usw.

Das Malresultat ist eine getreue zweidimensionale Abbildung dessen, was das physische Auge sah. In diesem Sinne beruht Naturalismus auf der genauen optischen Beobachtung des realen Gegenstandes. Ausdruck wird mit Imitation, Darstellung eines inneren Farbelebens mit Nachahmung der Naturerscheinung verwechselt.

Formen und Farben der realen Dinge werden beim Naturalismus optisch auf die Leinwand, in Ton, Bronze oder Holz übertragen ohne von einer künstlerischen Vision erfasst worden zu sein. Die fehlende Phantasie wird durch eine mechanische Tätigkeit und durch gekonnte Maltechnik oder handwerkliche Geschicklichkeit ersetzt. Und zwar sowohl bei einer realen als auch bei einer imaginierten Vorlage, die ein mittels perspektivischer, anatomischer und anderer Kenntnisse konstruiertes Produkt der Vorstellungskraft ist. In beiden Fällen ist das Ergebnis ein Abklatsch statt einer dargestellten Vision, ein Taschenspielertrick statt künstlerischen Ausdrucks (Tromp-l’oeuil).

Die vollkommensten Produkte des Naturalismus sind nicht Plastiken und Gemälde, sondern Totenmasken, Puppen der Wachsfigurenkabinette und Farbphotographien, denn diese geben den realen Gegenstand naturgetreuer wieder als es Bildhauer und Maler tun könnten. Allerdings gibt es Bilder, die so vollkommene Naturimitationen sind, dass sie von photographischen Aufnahmen kaum zu unterscheiden sind – Kunstwerke sind dies aber nicht (s. Fotorealismus).

Zum Naturalismus gehört sowohl der Realismus, der auch die hässlichen, grotesken oder krankhaften Züge des Objekts nachbildet oder hervorhebt, als auch der idealisierende Neoklassizismus, der sie schamhaft ausmerzt, das Objekt schönt und gefälliger erscheinen lässt. Beide gehen von der falschen Voraussetzung aus, die Kunst bestünde in der Darstellung der realen Dinge. Der idealisierende Künstler verbessert geschmacklich das Vorbild, der realistische glaubt der Wahrheit zu dienen indem er seine hässlichen Seiten herausstreicht. Das "Schön" und "Hässlich" und die "Wahrheitsliebe" beziehen sich hier auf den realen Gegenstand. An ihm und nicht an der künstlerischen Vision wird die Korrektur in positiver wie in negativer Hinsicht angebracht.

Der realen Erscheinung wird damit eine Bedeutung beigemessen, die ihr nicht zukommt. Das Phantasiebild jedoch kann nicht willentlich abgeändert und korrigiert werden. Der Künstler hat es zu nehmen wie es ihm erscheint, ob es im naturalistischen Sinne schön oder hässlich ist. Die einzige für ihn gültige Wahrheitsliebe besteht darin, seine – allerdings vom Objekt ausgelöste und deshalb naturähnliche – Vision und nicht eine materielle Vorlage so treu wie möglich darzustellen.

Der Naturalismus ist also keine Abart visionärer Kunst, ist keine Kunstgattung, keine Kunstrichtung und kein Kunststil, sondern Unkunst schlechthin. Er erscheint als Ermattung künstlerischer Schöpfungskraft. Wenn die Phantasie erlahmt, setzt der Naturalismus ein. Die äußere Form, die Gegenständlichkeit wird beibehalten, ohne von der Phantasie erfasst zu sein. Die künstlerische Mitteilung sinkt zu einem Täuschungsmanöver herab, zur Vortäuschung einer realen Welt, die vor dem physischen Auge des Bildners, nicht aber vor seinem inneren, visionären Auge erscheint.

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