Die Farbleitern und Farbkreise sind im Farbkörper so angeordnet, dass die Komplementärfarben einander gegenüber liegen. So wie die Oktaven, Quinten und Quarten unmittelbar gegeben sind, weil sie als Obertöne mitgehört werden, sind auch die Komplementärfarben als Nachbilder physiologisch gegeben. Nachbild nennt man die Farbe, die durch Sukzessivkontrast im geschlossenen Auge oder auf einer neutralen Fläche erscheint, nachdem der Blick längere Zeit auf einer bestimmten Farbe verharrte. Das Nachbild ist zu der vorher fixierten Farbe komplementär. Komplementärfarben heben sich auf, d.h. sie ergeben in gleicher Menge gemischt reines Grau. Ostwald bestimmte die komplementären Farben indem er die Hälften einer drehbaren Scheibe mit verschiedenen Farben bedeckte. Durch rasche Umdrehung der Scheibe entstand, wenn diese Farben komplementär waren, optisch Grau. Die komplementären geben den Farben ihr einziges festes Verhältnis, nämlich die Teilung der Farbenkreise in zwei Hälften. Da aber alle Farben ineinander übergehen, unbestimmbar bleiben und keine weiteren feststehenden Intervalle gefunden wurden, bleibt auch dieses Verhältnis gänzlich unbestimmt.
So einfach es ist, die Oktave eines Tones zu finden, so schwierig ist es – trotz des Sukzessiv-Kontrastes – die komplementäre Farbe eines Farbtons exakt zu bestimmen.
Die Meinungen über Komplementärfarben gehen infolgedessen sehr auseinander: Goethe, Runge, Hering, Itten sehen z.B. in Blau-Orange ein Komplementärpaar, Wünsch, Helmholtz, Ostwald dagegen in Blau-Gelb.
Aber auch ohne diese Unbestimmtheit würde das Komplementärintervall alleine nicht genügen, eine eindeutige Farbenordnung zu konstruieren. Eine feststehende Gliederung der Tonklänge wäre auch mit der Oktave als einzig feststehendem Intervall jedoch ohne Bestimmung der einzelnen Töne nicht möglich. Ebenso wenig können die Farben mit dem einzigen feststehenden Intervall der Komplementärfarben jedoch ohne Bestimmung der einzelnen Farben geordnet werden.
Das mühsam errichtete Farbsystem Ostwalds wurde deshalb von den Künstlern zu Recht als unbrauchbar abgelehnt; seine auf diesem System errichteten Farbharmonien wirken willkürlich und genügen selbst den bescheidensten ästhetischen Ansprüchen nicht. Gegen seine Absicht hat Ostwald durch seinen Versuch, die Farben zu normieren und eine Harmonielehre zu begründen, den Beweis erbracht, dass es eine solche nicht geben kann und dass die Farbe und Ton strukturell verschieden sind.
Trotzdem beschäftigten sich mehrere Autoren weiter damit, Farbharmonien aufzustellen, die ebenso unbrauchbar sind wie die Ostwaldschen, weil sie auf falschen Voraussetzungen basieren. Sie gehen nämlich alle von der irrigen Meinung aus, dass
1. die optischen Farben feststehende und wie die Töne messbare Einheiten seien,
2. die optischen Farben allein durch die Bestimmung als Komplementärpaare geordnet werden könnten,
3. komplementäre und kompensierte Farben notwendigerweise eine Harmonie erzeugen (dieser Glaube geht schon auf Goethe zurück),
4. die Gesetzlichkeit der Spektralfarben bedenkenlos auf die optischen Farben übertragen werden kann. Sie übersehen, dass es gar keine absolute optische Farbe geben kann, da diese durch die Beschaffenheit der Lichtquelle, durch Veränderung ihrer Lage zu dieser und durch jede der sie umgebenden Farben verändert wird, d.h. nur relativ zu anderen, ebenso unbestimmten Farben ihrer Umgebung erkannt werden kann.
Als noch viel hoffnungsloser erweist sich das Unterfangen, eine gültige Farbordnung aufzustellen, wenn die Kategorie der Töne mit jener der Farben verglichen wird, wenn die Kategorien Raum und Zeit in die Überlegungen mit einbezogen werden.
Wegen ihres Ablaufs auf der eindimensionalen „Zeitstrecke“, in der es nur kürzere und längere Einheiten gibt, kann die musikalische Tonfolge mühelos eingeteilt werden. Dagegen schließt die Zweidimensionalität einer Bildfläche jede eindeutige Einteilungsmöglichkeit der farblichen Elemente im Raum von vorneherein aus.
Jede farbige Raumeinheit hat auf dem Bilde ihre Form, ihre Ausdehnung und ihren Platz. Wie könnte auch nur daran gedacht werden, die ungeheure Menge der sich daraus ergebenden Möglichkeiten zu ordnen und einzuteilen? Man denke nur an einen krummen Strich. Wie sollte er seiner Form, seiner Lage, seine Richtung, seiner Breite, Länge und Biegung nach bestimmt und eingeordnet werden?
Ansätze, die Bildfläche zu gliedern, hat es immer gegeben. So wurde von den in Regeln verliebten Künstlern der Renaissance der goldene Schnitt verwendet. Dieser teilt eine Strecke so auf, dass der kleinere Abschnitt sich zum größeren verhält wie sich dieser zur ganzen Strecke. Nach ihm wurden die Bildformate gewählt und die wichtigsten Formen oder Formgruppen in der Bildkomposition angeordnet. Eine andere Einteilung bestand darin, die kleinere Bildseite beidseitig auf die größere zu übertragen (Holbein). Ferner dienten die Mittellinien und die Diagonalen der Bildfläche dazu, sie zu gliedern. Gleichseitige und rechtwinklige Dreiecke sowie Kreise, deren Radius und Zentrum durch verschiedene Konstruktionen bestimmt wurden, trennten die Bildteile voneinander. Bei all diesen geometrischen Überlegungen und Versuchen wurde jedoch übersehen, dass selbst diese primitivsten Ansätze einer Einteilung des Bildraumes durch optische Täuschungen aufgehoben werden. So scheinen helle Farbflächen größer als dunkle. Infolgedessen verschiebt sich das festgelegte Verhältnis, sobald ein Abschnitt des Bildraumes hellere Farben enthält als der andere.
So brauchbar diese Aufteilungen der Bildfläche für den einzelnen Maler als Hilfsmittel auch sein mochten, mit der sehr präzisen Einteilung der musikalischen Zeit, die restlos alle Töne bis hinunter zum 64stel erfasst und eindeutig gliedert, lassen sich diese Versuche keinesfalls vergleichen.
Wenn durch die Unbestimmbarkeit der Farbe und der Farbintervalle einer systematischen Ordnung schon unüberwindliche Hindernisse im Wege stehen, kann also eine solche Ordnung wegen der Zweidimensionalität eines Bildes erst recht nicht zustande kommen.
Da für die optischen Farben des Malers keine der drei Voraussetzungen gegeben ist, die eine zu den Tönen analoge Ordnung ermöglicht, ist der Beweis erbracht, dass die akustischen und visuellen Ausdrucksmittel strukturell verschieden sind. Eine visuell allgemein verständliche Sprache, die auf einer unmittelbar erfassbaren und einprägsamen Ordnung der Farben begründet wäre, gibt es nicht und kann es nicht geben.
Mit der Gegenständlichkeit ist diese Sprache jedoch gegeben. Wie natürlich und ungezwungen gliedert sich alles, sobald Formen und Farben nicht mehr als abstrakte Elemente, sondern gegenständlich gebunden verwendet werden. Die menschliche Vorstellungsgabe ist eben in sehr viel höherem Maße dazu geeignet, eine gegenständlich gebundene Farbenwelt als eine abstrakte zu erzeugen. Letztere wird immer nur zu geometrisierenden oder zufallsbedingten Formen sowie zu simplen Farbzusammenstellungen führen, die sich bestenfalls zu ästhetischer Ornamentik entwickeln kann, visionärer Kunst jedoch nicht angemessen sind.
Man vergleiche daraufhin nur ein kleines Teilstück eines gegenständlichen Meisterwerkes (z.B. Kirschen in einem holländischen Stillleben oder Pfirsiche von Jean Siméon Chardin) mit Produkten abstrakter Malerei (z.B. mit den schwarzen und roten Balken Piet Mondrians, die weiße oder blaue Rechtecke einschließen oder mit den Quadraten von Josef Albers). Hier ist die äußerste Armut der Farbgebung und eine nicht zu unterbietende Reduzierung der Form erreicht, die ideologisch motivierte Kopfgeburten dokumentiert und damit auch die Leere visuellen Erlebens. Bei anderen abstrakten Bildern wie "Schwarzes Quadrat auf weißem Grund" von Kasimir Malewitsch handelt es sich offensichtlich um Provokationen aus revolutionären Zeiten (1915). Zu schockieren, mit welchen Mitteln auch immer, und um jeden Preis aufzufallen, ist bis heute die Motivation für viele zeitgenössische Kunstschaffende, selbst nach so vielen Jahrzehnten.
Welche Differenziertheit dagegen in der Form und Farbgebung der Kirsche! Wir sehen eine rundliche, aber nicht kreisrunde, sondern auf ganz bestimmte Art vom Kreis abweichende, auf einer Seite leicht abgeflachte, unten ovale, einseitig etwas überhöhte konvexe Form, die oben mit zwei ungleichen, ineinander übergehenden Rundungen abschließt. Diese allgemeine Form wird bei jeder Kirsche auf andere Weise abgewandelt und ist in eine Unzahl anderer Formen unterteilt, die durch die Grenzen und Übergänge des auffallenden, des widerspiegelten und des reflektierten Lichtes entstehen. Jede dieser Formen hat ihr bestimmtes und eigentümliches, von der Beschaffenheit und Lage der Kirsche bedingtes Aussehen. Das Glanzlicht allein, das sich der nur an dieser Stelle der Kirsche eigenen Rundung entlang biegt, das am oberen Rande plötzlich, kantig und doch weich ansetzt, dann allmählich verschwindet und wieder erscheint, sich nach innen, dem Doppelbogen der Kirsche anschmiegend, teilt und sanft wieder vereinigt, um dann mit immer öfters aussetzender Helle allmählich im Schatten zu vergehen ..., dieses Glanzlicht allein ist das Ergebnis eines komplizierten und präzisen Spiels mannigfaltigster Formen. Und über der Kirsche spannt sich, formal von ihr ganz abweichend, jedoch rhythmisch zu ihr gehörend, der leichte Bogen ihres Stiels, dessen Lage, Länge und Breite, dessen Beginn, Verlauf und Ende wiederum für jede Kirsche verschieden ist. Dazu kommen die Schlagschatten und der vom Licht unberührte Teil des Bodens, der die Kirsche trägt, die Übergänge zu ihm und zu den Spiegelungen seiner Umgebung.
Jede dieser zahllosen Formen bezeichnet nur diejenige Stelle, welche eine wiederum ganz bestimmte Farbe einnimmt. Wenn man bedenkt, dass jede Farbe vier Grundeigenschaften hat und es für jede dieser Eigenschaften eine unzählige Menge von Abstufungen gibt, mag man die ungeheure Fülle der Ausdrucksmöglichkeiten erahnen, über welche die gegenständlich gebundene Phantasie verfügt. Wo die gegenständliche Phantasie spielend eine unerschöpfliche Menge von Farben und Formen produziert, müht sich die abstrahierende Einbildungskraft um spärliche, karge Ergebnisse. Selbst die raffiniertesten gegenstandslosen Erzeugnisse sind deshalb schon rein formal im Vergleich zu gegenständlichen Kunstwerken dürftig und grob.
3.2 Kritik abstrakter Kunst
Wenn ein Säugling vor sich hin lallt und gurgelnde oder prustende Laute ausstößt, können wir annehmen, dass er damit seine Empfindungen akustisch ausdrückt. Am Tonfall seines Gurgelns und an der Lautstärke seiner Stimme können wir mit einiger Erfahrung sogar ahnen, was in ihm vorgeht; meistens wissen wir es nicht wirklich, denn dazu ist sein Ausdruck zu unbestimmt. Infolgedessen täuschen wir uns oft und halten sein Geschrei z.B. für den Ausdruck von Hunger, während es in Wirklichkeit Unmut über nasse Windeln bedeutet. Das ändert sich, sobald das Kind spricht d.h. gelernt hat, seine Empfindungen nicht mehr durch Laute, sondern in Worten auszudrücken. Dann verstehen wir, was es uns mitteilt. Die Mitteilbarkeit des Ausdrucks setzt also die Kenntnis einer Sprache voraus.
Wie der Säugling verhält sich auch der abstrakte Künstler. Ihm selbst mögen die abstrakten Zeichen, die er produziert, zwar etwas bedeuten, der Betrachter seiner Werke aber kann ihre Bedeutung nicht herauslesen und wird den Ausdruck des Künstlers solange nicht verstehen oder missverstehen als dieser sich nicht einer allgemein verständlichen Sprache bedient.